"Wir wollen den Patienten keine Lebenszeit klauen!" Interview mit Dr. Min-Seop Son über die Möglichkeiten der Adipositas-Behandlung
Immer mehr Menschen leiden in Deutschland an krankhaftem Übergewicht. Forscher der WHO rechnen damit, dass bis 2030 fast jeder vierte Mann und etwas mehr als jede fünfte Frau extrem übergewichtig sein werden. Ein schwerwiegendes Problem. Die Ursachen der krankhaften Fettsucht und welche Behandlungsmöglichkeiten es für adipöse Patienten auf dem Weg in ein gesünderes und leichteres Leben gibt, erklärt Dr. Min-Seop Son, Leitender Oberarzt im Zentrum für Adipositas und Metabolische Chirurgie (AMC) der WolfartKlinik im Interview.
Übrigens: Als einziges Adipositaszentrum im Großraum München wurde das AMC der WolfartKlinik 2012 erstmals von der Deutschen Gesellschaft für Allgemein – und Viszeralchirurgie (DGAV) als Kompetenzzentrum zertifiziert und 2015 re-zertifizert.
Adipositas – eine Volkskrankheit? Die Menschen mit einem BMI von 27 sollen am längsten leben, nach Definition der WHO sind diese Menschen aber bereits übergewichtig. Wann wird aus ein paar Kilo zu viel krankhaftes Übergewicht, die Adipositas?
Dr. Min-Seop Son:
Kurz gesagt: Die Adipositas ist eine Erkrankung, auch Fettsucht genannt, welche nach dem BMI definiert wird. Übergewicht ist eine Vorstufe zur Adipositas.
Man weiß, dass die Adipositas mit typischen Erkrankungen einhergeht. Diese sind zum Beispiel Bluthochdruck, Diabetes, Schlafapnoe, um nur Einige aufzuzählen.
Adipositas ist letztendlich „die Fettsucht“, definiert nach dem BMI. Aber: als Krankheit ist Adipositas in Deutschland durch die Krankenkassen nicht anerkannt.
Weltweit wird die Adipositas anhand des Body Mass Index (BMI) definiert. Welche Rolle spielt der BMI?
Der BMI ist ein sogenannter Prediktor, definiert von der World Health Organization (WHO) und legt fest, ab wann ein Mensch noch normalgewichtig und ab wann übergewichtig oder eben adipös ist.
Die Adipositas selbst wird nochmals in drei Stadien unterteilt. Ab einem BMI von 30 kg/m² gilt man als adipös. Grad 1 gilt für einen BMI von 30 -35 kg/m², Grad 2 mit einem BMI von 35 bis 40 kg/m² und Grad 3 ab einem BMI von 40 kg/m². Tatsächlich sagt der BMI am schlechtesten voraus, ob ein adipöser Mensch eher gesund oder
krank ist, oder ob er Begleiterkrankungen ausbilden könnte. Es gibt andere Prediktoren, die sehr viel genauer sind, wie zum Beispiel das Ausmessen vom Bauchumfang, oder Taillenumfang in Relation zu Hüftumfang. Oder Taillenumfang im Vergleich zur Körpergröße.
Aber: der BMI ist international anerkannt, nach ihm werden Empfehlungen für chirurgische Eingriffe ausgesprochen. Die S3-Leitlinien legen fest, dass Patienten mit einem BMI von 35 kg/m² mit Begleiterkrankungen oder mit einem BMI von über 40 kg/m² ohne Begleiterkrankungen operiert werden dürfen, wenn weitere Faktoren oder Voraussetzungen erfüllt sind.
Welche Ursachen sind für die Adipositas bekannt?
Die Adipositas hat vielfältige Ursachen. Diese liegen oftmals nicht alleine in einer erhöhten Nahrungsaufnahme und Bewegungsmangel. Verschiedene Erkrankungen können eine Adipositas verursachen. Auch orthopädische Begleiterkrankungen, die zu einer Immobilität führen, gewisse Medikamente, Konfliktsituationen in der Kindheit und psychische Erkrankungen können ebenfalls ein Übergewicht bis hin zur Adipositas hervorrufen. Weiterhin werden ebenso genetische Ursachen vermutet.
Eine Ursache allein gibt es also oftmals nicht.
Mit welchen Problemen, gesundheitlichen und gesellschaftlichen, müssen sich Adipositas-Patienten auseinandersetzen?
Adipöse Menschen werden stigmatisiert. Vorurteile, die häufig mit adipösen Patienten verbunden werden, sind faul, träge, unzuverlässig, nicht belastbar. Sie werden im Alltag, im Beruf und in der Familie diskriminiert. Betroffene neigen auch dazu diese Vorurteile anzunehmen. Das wiederum führt oftmals zu weiteren psychischen Erkrankungen, wie Depression oder Essstörungen. Das merkt man insbesondere nach einer Operation und der damit verbundenen Gewichtsreduktion. Die Patienten sind wieder leistungsfähiger und bekommen mehr Selbstbewusstsein.
Die Patienten kommen immer ein einem relativ späten Stadium der Erkrankung zu Ihnen. Kann man Adipositas präventiv behandeln?
Eine familiäre Disposition ist durchaus gegeben: Kinder von übergewichtigen oder adipösen Eltern haben ein gewisses Risiko, selbst übergewichtig zu werden.
Grundsätzlich kann man am Gewichtsverlauf eines Menschen natürlich erkennen, ob er Gefahr läuft, krankhaft übergewichtig zu werden. Typisch ist, dass die Betroffenen immer mehr zunehmen, bis der Punkt erreicht ist, dass sie nicht mehr ausreichend mobil sind. Insgesamt wird hierdurch die Energiebilanz negativ beeinflusst.
Wann genau dieser Zeitpunkt ist, lässt sich schwer festmachen. Aber am Gewichtsverlauf kann man sicherlich bei den einzelnen Patienten sagen: Wenn du jetzt nicht aufpasst, dann wird es immer kritischer.
Das Zentrum für Adipositas- und Metabolische Chirurgie (AMC) der WolfartKlinik in Gräfelfing ist auf die Behandlung adipöser Patienten spezialisiert und als Kompetenzzentrum zertifiziert. Mit welchen Fragen kommen die Menschen zu Ihnen?
Die meisten Patienten kommen natürlich mit dem Wunsch, abzunehmen. Aber wie letztendlich abgenommen werden kann, ist dann unterschiedlich.
Im AMC bieten wir verschiedene Programme an, mit denen wir unseren Patienten individuell helfen können. Alle Patienten, die für eine Operation in Frage kommen, werden entsprechend umfangreich vorbereitet. Es gibt aber auch Patienten, die wir nicht operieren, da aus unterschiedlichen Gründen eine Operation nicht sinnvoll sein kann.
Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Köln sind rund 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland übergewichtig. Das sind fast zwei Millionen Drei- bis 17-Jährige, aus denen oft adipöse Erwachsene werden. Ein unaufhaltsamer Trend?
Präventive Maßnahmen müssen bereits früh starten, d.h. bei Kindern und Jugendlichen. Zum Beispiel durch Ernährungsberatungen und Kochkurse in Schulen und Kindergärten. Kinder müssen lernen, was Gemüse und was Obst ist, was gesund und was ungesund ist. Wir müssen ebenso Bewegungsangebote bereitstellen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Eltern immer mitbehandelt werden müssen: Kinder kochen nicht. Kinder gehen nicht einkaufen - es sind primär die Eltern, die beraten werden müssen.
Häufig hat Übergewicht bis hin zur Adipositas auch eine soziale Komponente: Energiereiche, ungesunde Ernährung ist häufig viel günstiger und leichter zu beschaffen als selbst frisch zu kochen. Dazu benötigt es auch mehr Disziplin und mehr Motivation, sich zu überlegen, was koche ich heute, was brauche ich, was muss ich einkaufen.
Adipöse Patienten müssen nicht nur unter dem Gewicht leiden, sondern sind auch von verschiedenen Sekundärerkrankungen betroffen. Welche sind das?
Es gibt ganz klare Adipositas-spezifische Begleiterkrankungen. Dazu zählt die Hypertonie, also der Bluthochdruck, der Diabetes Mellitus Typ 2, das Schlafapnoe-Syndrom, das Asthma Bronchiale oder die Unfruchtbarkeit der Frau aufgrund eines PCO-Syndroms. Auch gewisse Tumorerkrankungen kommen häufiger vor. Wirbelsäulen-, Hüft- und Knieprobleme sind ganz typische Erkrankungen, die mit der Zeit entstehen können.
Welche Möglichkeiten hat die Adipositas-Chirurgie?
Bis vor ein paar Jahren hat man die Adipositas-Chirurgie unterteilt in restriktive Operationen und malabsorptive Operationen. Restriktion heißt, dass man weniger essen kann und länger satt ist. Malabsorption heißt, dass das Gegessene weniger aufgenommen wird. Und dann gibt es Verfahren, die beide Prinzipien miteinander verbinden.
Diese Prinzipien sind, das hat man mittlerweile festgestellt, aber nicht die einzigen Ursachen für den Gewichtsverlust der Patienten und die Heilung von typischen Begleiterkrankungen. Als Folge der Operation finden hormonelle Veränderungen statt, die den Stoffwechsel begünstigen, und zum Beispiel die Insulinresistenz oder den Gallesäurenspiegel positiv beeinflussen.
Welche Operationsverfahren werden durchgeführt?
Die Hauptoperationen, die weltweit durchgeführt werden, sind die sogenannte Schlauchmagen-Resektion oder Sleeve-Gastrektomie und der sogenannte proximale Roux-en-Y Magen-Bypass.
Bekannte Operationen wie die Implantation eines Magenbandes werden aufgrund des relativ geringen Effektes sowie der möglichen Langzeit-Komplikationen zunehmend seltener durchgeführt. Zu den aufwendigeren Operationen gehören die biliopankreatische Diversion mit Duodenal-Switch, der SADI-S oder der Omega-Loop.
Statistiken belegen, dass Bypass-Operationen immer noch effektiver sind als Schlauchmagen- Eingriffe, bezüglich der Gewichtsabnahme und auch in der Besserung von Begleiterkrankungen.
Sind alle Operationsverfahren für alle Patienten geeignet?
Nein, auf keinen Fall. Ob ein operativer Eingriff für einen adipösen Patienten in Frage kommt, hängt von verschiedenen Faktoren ab: zum Beispiel von der Schwere der Folgeerkrankungen, den Erfolgsaussichten konservativer Behandlungsmethoden, dem Alter und dem Gesundheitszustand allgemein.
Prinzipiell erfolgt vor jeder Operation eine umfangreiche Abklärung und letztendlich eine interdisziplinäre Entscheidung, ob ein Patient operiert werden sollte.
Welche Voraussetzungen müssen Patienten für einen chirurgischen Eingriff erfüllen?
Im AMC halten wir uns streng an die S3-Leitlinien. Unsere Patienten führen unter professioneller Anleitung sechs bis 12 Monate konservative Therapie durch: dazu gehört eine Ernährungsberatung, aber auch eine Verhaltens- und Bewegungstherapie. Nach sechs Monaten schauen wir gemeinsam mit dem Patienten: was haben die Anstrengungen der vergangenen Monate gebracht? Sind weder die Folge- und Nebenerkrankungen verbessert und hat auch keine Gewichtsreduktion stattgefunden, könnte ein chirurgischer Eingriff der nächste Schritt sein.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn ein 160-Kilo Mann durch eine monatelange Ernährungsberatung 10 Kilo abnimmt, ist das vielleicht viel, aber noch lange nicht ausreichend. Dann wiegt er 150 Kilo – aber unter dem Strich hat sich nicht viel getan. Und sie können durch eine konservative Therapie die erforderliche Gewichtsreduktion nicht erreichen. Dies belegen auch sämtliche Studien. Meist ist eine Operation der notwendige Schritt zur Gesundheit – auch um Begleiterkrankungen, wie Diabetes oder Bluthochdruck, zu behandeln oder gar zu vermeiden.
Wenn wir nicht operieren, klauen wir den Menschen ihre Lebenszeit.
Im AMC behandeln Sie adipöse Patienten multimodal – was steckt dahinter?
Unter der multimodalen Therapie verstehen wir eine interdisziplinäre Behandlung. Darunter fällt Ernährungsberatung, Verhaltens- und Bewegungstherapie. Diese drei Säulen sind für eine effektive Therapie absolut notwendig.
Sind die Patienten nach dem bariatrischen Eingriff geheilt?
Die Operation ist nur ein Teil des Ganzen. Vor der Operation arbeiten wir in Ernährungs- und Bewegungstherapie eng mit den Patienten zusammen, wir bereiten sie auf den Eingriff aber auch auf das Leben danach vor. In der Nachsorge bleiben wir den Patienten auch eng verbunden und schauen, ob der Patient mit der gesünderen Ernährung zurechtkommt, ob die Laborwerte stimmen, um Mangelerscheinungen vorzubeugen.